LSG Berlin-Brandenburg: Krankenkasse muss Kosten für 24-Stunden-Behandlungspflege voll übernehmen

Das LSG Berlin-Brandenburg hat in einer Entscheidung vom 23.10.2008
(Az.: L 1 B 346/08 KR ER) die hier vertretene Rechtsauffassung bestätigt. Das LSG bejaht die Einstandspflicht der Krankenkasse bi einer 24-Stunden-Intensivversorgung und gleichzeitiger Pflegebedürftigkeit und führt wörtlich aus:

(…) Allerdings kann der 3. Senat des BSG für diese Auffassung nur auf seine Entscheidung vom 28. Januar 1999 verweisen. Es handelt sich dabei – wie weiter unten näher auszuführen sein wird – weder um Gesetzesauslegung noch um die Wiedergabe einer allgemeinkundigen Tatsache. Selbst nach dieser Rechtsprechung soll es jedoch auch Ausnahmen geben. Eine solche liegt hier vor: Es ist jedenfalls hier im Eilverfahren nicht davon auszugehen, dass die Behandlungspflege hinter der Grundpflege zurücktritt. Hier ist rund um die Uhr nach dem insoweit unstreitigen Vorbringen des Antragstellers, an dessen Richtigkeit nach Maßstäben summarischer Prüfung im Eilverfahren zur Überzeugung des Senats nicht zu zweifeln ist, eine besondere Pflege zu leisten, welche besondere Qualifikationen voraussetzt und die nicht von einer „normalen“ Pflegekraft leistbar ist (ebenso LSG Bayern, Beschluss vom 17. November 2006 – Juris Rdnr. 23, LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 14. November 2006 –
Höherwerte Pflegedienstleistungen treten nicht zurück, auch wenn dabei normale Pflegeleistungen mitgeleistet werden. Das BSG ist im Drachenfliegerurteil in seinem Erläuterungsbeispiel davon ausgegangen, dass die Behandlungspflege und die Grundpflege zum jeweils selben Stundensatz erfolgen (Urteil vom 28. Januar 1999, a.a.O. S. 262: jeweils [nur] 30,00 DM pro Stunde). Der Pflegedienst fordert zu Recht vom Antragsteller eine adäquate Bezahlung. Leistungsgerecht ist hier in summarischer Betrachtung der derzeit geforderte Stundensatz von 28,50 EUR. (…)

Es gibt keine Regelung im SGB V, welche die Sachleistung häuslicher Krankenpflege von einer Gebühr (wie beispielsweise bei der Rezeptgebühr hinsichtlich der Versorgung mit Medikamenten) oder einer den Sachleistungsanspruch begrenzenden Eigenleistung (wie beispielsweise beim Wunsch nach höherwertiger Zahnfüllung nach § 28 Abs. 2 S. 2 und 3 SGB V) abhängig macht. Es gibt auch keine Kostendeckelung wie bei der Grundpflege nach dem SGB XI. § 37 IV SGB V betrifft schließlich singuläre Fälle, bei welchen die Krankenkasse entweder keine Pflegekraft stellen kann – wofür hier nichts ersichtlich ist -, oder aus anderen Gründen die Pflege sinnvollerweise nicht als Sachleistung der Krankenkasse zu erbringen ist (vgl. die Beispiele bei KK-Höfler, § 37 SGB V Rdnr. 27: selbst gewählte Pflegekraft billiger, Versicherte akzeptiert krankheitsbedingt nur eine bestimmte Person) (ebenso – § 37 Abs. 4 SGB nicht einschlägig -: BSG, Urteil vom 28. Januar1999, a.a.O. S. 261).
Damit sind nach dem Gesetz alle notwendigen Kosten häuslicher Krankenpflege zu übernehmen, selbst wenn der Pflegedienst auch die Grundpflege mitleisten kann oder könnte. Der Antragssteller verweist nämlich im Einklang mit dem BVerfG (Nichtannahmebeschluss vom 10. März 2008 – 1 BvR 2925/07 -, Rdnr. 6) zutreffend darauf hin, dass nach § 13 Abs. 2 SGB XI die Leistungen der häuslichen Krankenpflege unberührt bleiben. § 37 SGB V seinerseits verbietet nur die Erbringung von Leistungen der Grundpflege durch die Krankenkasse. Nach § 37 Abs. 2 Satz 4 bis 6 SGB V darf nämlich nach Eintritt von Pflegebedürftigkeit im Sinne des SGB XI Grundpflege nicht als häusliche Krankenpflege geleistet werden, auch wenn dies ansonsten nach Maßgabe der Satzung möglich wäre. Umgekehrt ruht schließlich der Anspruch auf Leistungen der häuslichen Pflege nach § 34 Abs. 2 S. 1 SGB XI, soweit Grundpflege im Rahmen der häuslichen Krankenpflege erfolgt.
Die Antragsstellerin [richtig: Antragsgegnerin] kann sich für ihre Haltung auch nicht auf das BSG berufen. Aus der Grundsatzentscheidung des BSG vom 28. Januar 1999 ergibt sich eine solche Einschränkung des Sachleistungsanspruches nicht. Im dortigen Verfahren hatte die beklagte Krankenkasse gerade anerkannt, dem dortigen Kläger die Behandlungspflege in der Zukunft als Sachleistung zu gewähren. Der klagende Versicherte hatte lediglich mit seiner Revision keinen Erfolg, soweit er die Krankenkasse darüber hinaus zu Leistungen der Grundpflege verurteilt wissen wollte. Alleine hierfür gibt es nach Auffassung des 3. Senats des BSG in diesem Urteil keine Rechtsgrundlage. Im Verfahren B 3 KR 38/04 R (Urteil vom 10. November 2005) stand von vornherein nur ein Anspruch auf 9,5 Stunden täglich als Sachleistung im Streit. Auch das BVerfG betont, der Rechtssprechung des BSG könne kein allgemein geltender Rechtsatz in dem Sinne entnommen werden, dass für die Zeiten, welche in die Leistungspflicht der Pflegekasse fielen, kein Anspruch auf Leistungen der Sicherstellungspflege bestehe (Beschluss vom 10. März 2008, RdNr. 5).

Der vom 3. Senat des BSG aufgestellte Topos des „Regelmäßigen Zurücktretens“ begründet keine die Behandlungspflege einschränkende gesetzliche Regelung. Es handelt sich vielmehr um eine in einer einzigen Entscheidung (Urteil vom 28. Januar 1999, a.a.O. S. 262 f) des BSG aufgestellte Behauptung, welche in einer weiteren Entscheidung bereits als Rechtsprechung bezeichnet wird (Urteil vom 10. November 2005, a.a.O. Rdnr. 21). Ein Rechtsatz zur Auslegung des einfachen Rechts scheidet aus. Es geht nicht um die Abgrenzung von Behandlungs- und Grundpflege im Einzelfall (ebenso jedenfalls im Ergebnis auch LSG Nordrhein-Westfalen, a.a.O. Rdnr. 27; vgl. zu Abgrenzungsfragen ausführlich KK-Höfler, § 37 SGB V Nr. 23c ff). Dass es sich bei dem Vorrang der Grundpflege alternativ um eine allgemeinkundige Tatsache handelt, welche das BSG als Revisionsgericht ohne Weiteres zu Grunde legen durfte, lässt sich den beiden (einzigen) bereits zitierten Entscheidungen ebenfalls nicht entnehmen. Da schließlich nicht davon auszugehen ist, dass sich das BSG über das geltende Recht hinwegsetzen wollte, kann es sich bei dem Satz, dass während der Erbringung der Leistungen der Grundpflege die Behandlungspflege grundsätzlich in den Hintergrund träte, nur um eine bloße Meinungsäußerung des Senats handeln, wie sich die tatsächlichen Verhältnisse regelmäßig wohl zeigen werden. In einer Vielzahl von Fällen bestehe nicht die Erforderlichkeit von häuslicher Krankenpflege, soweit Grundpflege geleistet werde.
Jedenfalls in der Interpretation der beiden Entscheidungen des BSG, wie sie die Antragsgegnerin vornimmt, wäre der Grundsatz des Zurücktretens dagegen nicht mit dem Gesetz in Einklang. Diese verstößt gegen Art. 20 Abs. 3 GG, indem sie eigenmächtig die Kostendeckelung der sozialen Pflegeversicherung ohne gesetzliche Grundlage auf die gesetzliche Krankenversicherung überträgt. Dem Versicherten steht vielmehr gegenüber der Krankenversicherung nach wie vor der volle Sachleistungsanspruch zur Verfügung, ohne dass dieser zur Leistung eines Eigenanteiles verpflichtet wäre. Soweit die entsprechende Leistung nach dem SGB V sich auch als Grundleistung nach dem SGB XI darstellt, kann die Krankenkasse von der Pflegekasse entsprechend Erstattung verlangen. Eine Beiladung der Pflegekasse im Eilverfahren erscheint aber nicht opportun. Ob diese ihrerseits im Hinblick auf die Deckelung (§ 36 Abs. 3 SGB XI) vom Antragsteller oder subsidiär vom Sozialhilfeträger Erstattung verlangen könnte, braucht hier nicht geklärt zu werden. Es braucht auch nicht darauf eingegangen werden, ob eine gesetzliche Kostendeckelung für die Behandlungspflege mit dem Grundgesetz vereinbar wäre, wie dies der Antragssteller problematisiert. Die Antragsgegnerin sei nur darauf hingewiesen, dass es sich auch ihre Pflegekasse zu einfach machen dürfte, indem sie nur einen Kostenanteil zum privat abzuschließenden Pflegevertrag leisten will. Es ist nämlich noch nicht geklärt, ob es sein kann, dass mangels Pflegevereinbarung zwischen Versichertem und Pflegedienst die Pflegekasse überhaupt nicht leisten muss bzw. ob – umgekehrt gedacht – der Versicherte nicht einen Anspruch auf Pflegeleistungen in vollem Umfang hat, bis die Kosten aufgezehrt sind, bevor er selbst verpflichtet werden kann (von letzterem geht KK-Leitherer § 36 SGB XI Rdnr. 50 aus).“