Beim Bezug von Pflegegeld muss Krankenkasse 24-Std.-Behandlungspflege zahlen

Hessische Landessozialgericht, Urteile vom 09.12.2010 (L 1 KR 187/10 und L 1 KR 189/10)

Das Bundessozialgericht hat mit Urteil vom 17.06.2010 (B 3 KR 7/09 R) entschieden, dass die Ansprüche aus der GKV nach § 37 Abs. 2 SGB V und aus der Pflegeversicherung nach § 36 SGB XI gleichberechtigt nebeneinander stehen. In Fällen der Rund-um-die-Uhr-Betreuung sei der Zeitwert der Grundpflege zur Hälfte vom Anspruch auf die ärztlich verordnete, rund um die Uhr erforderliche Behandlungspflege abzuziehen. Nur für diesen Zeitanteil sei die Pflegekasse zuständig, für den restlichen Anteil hat die Krankenkasse einzutreten. Die Pflegekasse hat also die Kosten der Hälfte des Zeitaufwands der reinen Grundpflege zu tragen, jedoch begrenzt auf den Höchstbetrag für die Sachleistungen der dem Versicherten zuerkannten Pflegestufe. Fraglich sind aber weiterhin die Fälle, in denen nicht ein und dieselbe Pflegekraft sowohl Grund- als auch Behandlungspflege erbringen, sondern der Versicherte zur Erbringung der Pflegeleistungen im Rahmen von Pflegegeld private Pflegepersonen hinzuzieht. Das Hessische Landessozialgericht hat mit zwei Urteilen vom 09.12.2010 (L 1 KR 187/10 und L 1 KR 189/10) entschieden, dass für diese Fälle das BSG-Urteil vom 17.06.2010 nicht gilt. Zur Versorgung mit verordneter 24-Std.-Behandlungspflege sei insoweit allein die Krankenkasse verpflichtet.

Den Urteilen lagen folgende Sachverhalte zugrunde:
In beiden Sachverhalten bestand die Notwendigkeit einer 24 Std. beatmungspflichtigen Versorgung. Bedarfsabhängig erfolgte zudem ein endotracheales Absaugen zur Freihaltung der oberen Luftwege. Wegen der Beatmungspflege und des Risikos plötzlich auftretender Komplikationen, wie etwa akut eintretende vitale Ateminsuffizienz, war die kontinuierliche Anwesenheit einer qualifizierten Krankenpflegefachkraft erforderlich. Von der Pflegekasse bezogen die Versicherten jeweils Pflegegeld, weil Grundpflege und hauswirtschaftliche Versorgung durch die Eltern der Versicherten erfolgte.

Die Krankenkasse übernahm jedoch nicht die vollen Kosten der 24-stündigen Behandlungspflege, sondern nur den um die Grundpflege gekürzten Zeitanteil. Zur Begründung verwies die Krankenkasse auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (sog. „Drachenflieger-Urteil“), nach der der Zeitanteil abgezogen werde, der auf die Grundpflege entfalle. Während der Erbringung der Grundpflege – so das BSG seinerzeit – trete die Behandlungspflege in den Hintergrund, so dass die Kostenzusage für die häusliche Krankenpflege entsprechend um den Zeitanteil der Grundpflege zu kürzen sei.

Gegen diese Teilablehnungen erhoben die Versicherten nach erfolglosem Widerspruchsverfahren Klage beim Sozialgericht. Durch die Kürzung der Kostenübernahme sei eine lückenlose Überwachung nicht gewährleistet, da die anfallenden Kosten in Höhe von rund 3.500,00 € monatlich nicht aufgebracht werden können. Bei einer Anrechnung von Zeiten der Grundpflege auf die Behandlungspflege werde das gesetzlich vorgesehene Wahlrecht zwischen Geld- und Sachleistungen im Bereich der Pflegeversicherung ausgehebelt. Bei Beatmungspatienten bestehe das Erfordernis einer kontinuierlichen Überwachung durch medizinische Fachkräfte, um bei lebensbedrohlichen Zwischenfällen adäquat reagieren zu können. In diesen Fällen könne man allein aufgrund der Bedeutung der Behandlungspflege für die lebenserhaltende Funktionen nicht davon sprechen, dass bei der Ausführung der Grundpflege die Behandlungspflege in den Hintergrund trete. Außerdem werde bei Beatmungspflegepatienten durch die gleichzeitige Ausübung der Grundpflege gerade keine Behandlungspflege unterbrochen.

Nachdem das Sozialgericht den Klägern Recht gegeben hatte, bestätigte nun auch das Landessozialgericht Hessen in zwei Berufungsurteilen diese Rechtsprechung. Die Notwendigkeit der ständigen Beobachtung eines Versicherten durch eine Fachkraft, um jederzeit medizinisch pflegerisch eingreifen zu können, wenn es zu Verschlechterungen der Atemfunktion und zu Kampfanfällen komme (lebensbedrohliche Komplikationen von Erkrankungen), sei nach gefestigter Rechtsprechung als behandlungspflegerische Maßnahme zu betrachten. Diese Leistung sei von den Eltern der Versicherten nicht zu erbringen. Die im sog. „Drachenflieger-Urteil“ des Bundessozialgerichts am 28.01.1999 vertretene Rechtsauffassung sei für die Zeit ab dem 01.01.2004 vom Bundessozialgericht selbst als durch die Rechtsentwicklung überholt angesehen und aufgegeben worden. Durch die Rechtsentwicklung wollte der Gesetzgeber den Anspruch aus § 37 Abs. 2 SGB V auch bei gleichzeitiger Inanspruchnahme von Leistungen nach dem SGB XI möglichst ungeschmälert erhalten. Versicherte, die häusliche Krankenpflege nach § 37 Abs. 2 SGB V bedürfen, sollen diesen Anspruch auch dann in möglichst weitem Umfang wahrnehmen können, wenn sie pflegebedürftig sind und deshalb Leistungen nach dem SGB XI erhalten. Zweck der Regelungen der sozialen Pflegeversicherung sei es, die Leistungen der GKV zu ergänzen, sie aber prinzipiell nicht zu verdrängen. Die Parallelität und Gleichrangigkeit der Ansprüche, auch in der Vorschrift des § 13 Abs. 2 SGB XI zum Ausdruck, wonach die Leistungen der häuslichen Krankenpflege nach § 37 SGB V unberührt bleiben.

Die vom Bundessozialgericht in seiner neuen Rechtsprechung im Urteil vom 17.06.2010 (B 3 KR 7/09 R) entwickelte Kostenaufteilung zwischen Krankenkasse und Pflegekasse, gelte lediglich für den Fall der gleichzeitigen Erbringung der Leistungen durch ein- und dieselbe Fachkraft. Dies sei vorliegend gerade nicht der Fall, da die häusliche Krankenpflege rund um die Uhr als Sachleistung durch eine Pflegefachkraft in Anspruch genommen werde und die Grundpflege sowie hauswirtschaftlicher Versorgung durch die Eltern als Angehörige erledigt werden. In dieser Konstellation ist der Anspruch aus § 37 Abs. 2 SGB V ohne Abzüge zu erfüllen und dem Versicherten steht zusätzlich das volle Pflegegeld nach § 37 SGB XI zu. Der Pflegebedürftige hat in solchen Fällen die freie Wahl zwischen Pflegesachleistungen nach § 36 SGB XI und dem Pflegegeld nach § 37 SGB XI. Er sei insbesondere nicht verpflichtet, mit Rücksicht auf das Wirtschaftlichkeitsgebot Pflegesachleistungen in Anspruch zu nehmen, nur weil er gleichzeitig erforderliche Behandlungspflege nach § 37 SGB V als Sachleistung erhalte und deshalb eine Fachkraft bereitstehe, die auch die Pflegesachleistungen theoretisch erbringen könnte. Sofern nicht dieselbe Pflegefachkraft gleichzeitig beide Arten der Sachleistungen erbringe, sondern zwei Personen eingesetzt werden, stehen beide Ansprüche, also § 37 Abs. 2 SGB V einerseits und § 37 SGB XI andererseits, nach Leistungserbringung und Zuständigkeit getrennt uneingeschränkt nebeneinander.

Den Urteilen des Hessischen Landessozialgerichts ist uneingeschränkt zuzustimmen. Das Bundessozialgericht hat in seiner Entscheidung vom 17.06.2010 anerkannt, dass die gesetzlichen Neuregelungen nunmehr für alle verrichtungsbezogenen Maßnahmen der Behandlungspflege eine Doppelzuständigkeit von Krankenkassen und Pflegekassen geschaffen haben. In der Praxis führt dies bei Sachleistungsansprüchen stets zu einer Inanspruchnahme der Krankenkassen, weil der Anspruch aus § 37 Abs 2 SGB V der Höhe nach nicht begrenzt ist. Der Gesetzgeber wollte den Anspruch aus § 37 Abs 2 Satz 1 SGB V auch bei gleichzeitiger Inanspruchnahme von Leistungen nach dem SGB XI möglichst ungeschmälert erhalten wissen. Versicherte, die häuslicher Krankenpflege nach § 37 Abs 2 SGB V bedürfen, sollen diesen Anspruch auch dann in möglichst weitem Umfang wahrnehmen können, wenn sie pflegebedürftig sind und deshalb Leistungen nach dem SGB XI erhalten. Eine Finanzierung von Grundpflegeleistungen durch die Krankenkasse tritt beim Bezug von Pflegegeld nicht ein, weil dann sämtliche Grundpflegeleistungen durch die Pflegeperson erbracht werden und diese über das Pflegegeld bzw. über ergänzendes Pflegegeld nach dem SGB XII finanziert wird. Die Krankenkasse bezahlt nur die Behandlungspflege, die durch eine Pflegefachkraft erbracht werden muss.

Tipp für die Praxis:
Diese Rechtslage gilt seit dem 01.01.2004, so dass grundsätzlich auch rückwirkende Änderungen bereits ergangener Entscheidungen überprüft werden können. Prüfen Sie die bisher erhaltenen Bewilligungen der Krankenkassen. Viele Krankenkassen beachten weder das neue BSG-Urteil vom 17.06.2010 noch finanzieren Sie bei Pflegegeldbezug die Behandlungspflege in vollem Umfang. Sollte dies der Fall sein, ist Widerspruch und ggf. Klage geboten.