Sozialgericht Berlin verurteilt AOK Nordost zur Zahlung des Wohngruppenzuschlags

Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 02.11.2017 – S 111 P 1524/14

Das Sozialgericht Berlin hat mit Urteil vom 02.11.2017 die AOK Nordost verurteilt, dem in einer Wohngemeinschaft für pflegebedürftige Personen lebenden Kläger den Wohngruppenzuschlag nach § 38 a SGB XI zu zahlen. 

Die AOK Nordost lehnte den Antrag des Versicherten zunächst mit der Begründung ab, er könne in der Wohngemeinschaft den Pflegedienst nicht frei wählen. Die Präsenzkraft der Wohngemeinschaft sei auch nicht gemeinschaftlich beauftragt worden. Es liege kein gemeinschaftliches Wohnen vor. Außerdem handle es sich nicht um eine ambulante Versorgungsform, denn der Versicherte sowie seine Mitbewohner seien – wie in einem Heim – auf eine vollständige intensive Betreuung und Pflege rund um die Uhr angewiesen.

Das Sozialgericht sah diese Ablehnungsgründe als wenig nachvollziehbar an. Dafür, dass die Mitglieder der Wohngemeinschaft den Pflegedienst nicht frei wählen könnten, sei nichts ersichtlich. Im Gegenteil: Es sei nachgewiesen, dass regelmäßige Angehörigenversammlungen stattfinden, in deren Rahmen Organisationsfragen der Wohngemeinschaft besprochen und geklärt werden. Die Präsenzkraft sei gemeinschaftlich beauftragt worden. Es handle sich auch um eine abgeschlossene Wohnung, in der jeder Bewohner ein Zimmer hat und die übrigen Räume gemeinschaftlich genutzt werden. Im Übrigen finde ein gemeinschaftliches Leben statt, es werde gemeinsam gegessen und gemeinsam arbeitsteilig unter Anleitung der Haushalt organisiert. An einem gemeinsamen Wohnen könne daher kein Zweifel bestehen. 

Näher befasste sich das Sozialgericht mit dem Argument der AOK Nordost, es handle sich nicht um eine ambulante Wohnform. Dabei hob das Gericht zunächst hervor, dass es bei der Frage der Wohnform auf den Umstand, dass zum Teil eine intensive Pflege in der Wohngemeinschaft notwendig sei, nicht ankomme. Der Umfang der Pflegebedürftigkeit stehe einer ambulanten Wohnform nicht entgegen, denn ein vergleichbarer Pflegebedürftiger in einem eigenen Haushalt bedürfte ebenfalls erheblicher Hilfe. Für eine ambulante Versorgungsform spreche ferner, dass Angehörige in erheblicher Weise in die Organisation der Wohngemeinschaft eingebunden sind. Aufgrund dieser Umstände war die AOK Nordost zur Bezahlung des Wohngruppenzuschlags zu verurteilen.

Leistungserbringung nur durch formal qualifiziertes Personal

Das sächsische Landessozialgericht hat mir Urteil vom 13.09.2018 (Az. L 9 KR 265/13) entschieden, dass Leistungen, die nicht durch formal qualifiziertes Fachpersonal erbracht wurden, nicht zu vergüten sind. Dies gilt selbst dann, wenn zur Leistungserbringung eingesetztes Personal die zur Führung einer nach dem Rahmenvertrag erforderlichen Berufsbezeichnung notwendigen Prüfungen erfolgreich abgelegt, die Erlaubnis zur Führung der Berufsbezeichnung aber nicht beantragt haben. Entscheidend ist die formale Qualifikation zum Zeitpunkt der Leistungserbringung. 

In dem vom LSG Sachsen entschiedenen Fall fehlte einer Pflegefachkraft die nach dem Rahmenvertrag erforderliche formale Qualifikation als „Altenpflegerin“. Die Fachkraft hatte zwar alle erforderlichen Prüfungen abgelegt, den Antrag auf Erteilung der Erlaubnis zur Führung der Berufsbezeichnung „Altenpflegerin“ aber erst später gestellt, nachdem sie bereitzs für den Pflegedienst Leistungen erbracht hatte. Für die Zeit, in der die Mitarbeiterin nicht befugt war, die Bezeichnung „Altenpflegerin“ zu führen, ist nach Ansicht des LSG eine ungerechtfertigte Vermögensverschiebung erfolgt, sodass ein Anspruch auf Vergütung nicht bestand.

Die Parteien streiten um die Erstattung der Vergütung pflegerischer Leistungen. Die Klägerin, ein Pflegedienst, hat Leistungen der häuslichen Krankenpflege aufgrund eines mit der beklagten Krankenkasse abgeschlossenen Rahmenvertrages nach § 132a SGB V erbracht. In § 19 des Vertrages war festgehalten, dass die Leistungen unter Aufsicht einer ausgebildeten Pflegekraft erbracht werden müssen. § 20 bestimmte, die fachlichen Voraussetzungen erfülle, wer unter anderem die Bezeichnung „Altenpflegerin“ führen darf. § 22 legte fest, dass neben der Aufsicht führenden zwei weitere Pflegekräfte zu beschäftigen seien, die die Voraussetzungen nach § 20 erfüllen.

Bei einer Prüfung der Klägerin stellte die Beklagte fest, dass eine ehemalige Mitarbeiterin der Klägerin zur Erbringung von Leistungen eingesetzt worden war, die nicht immer die Befugnis gem. § 1 Satz 1 AltPflGzur Führung der Berufsbezeichnung „Altenpflegerin“ innehatte. Sie hatte zwar die erforderlichen Prüfungen abgelegt, den Antrag zur Erteilung der Erlaubnis aber erst später gestellt, als sie schon für die Klägerin tätig war.Das System der Leistungserbringung gebiete den Einsatz qualifizierten Personals. Die erforderliche Qualität könne nur dadurch abgesichert werden, dass auch bei Leistungserbringung, die zwar an sich ordnungsgemäß, aber nicht durch formal qualifiziertes Personal erfolge, keine Vergütung geleistet werde. Die Bedeutung der Vertragsbestimmungen erschöpfe sich nicht in einer bloßen Ordnungsfunktion, sondern sichere die Qualität im Leistungserbringungssystem ab. Die Qualifikation müsse die Krankenkasse nicht selbst prüfen, sie dürfe sich vielmehr auf die Erteilung der Erlaubnis zur Führung entsprechender Berufsbezeichnungen verlassen. Im Übrigen sei sie auch nicht zu einer fachlichen Prüfung des Personals befugt, dem die Führung einer bestimmten Berufsbezeichnung erlaubt sei. Deswegen komme es nicht darauf an, dass die Mitarbeiterin die erforderlichen Prüfungen abgelegt und lediglich die Erlaubnis zur Führung der Berufsbezeichnung „Altenpflegerin“ noch nicht beantragt hatte.

LSG: Gemeinschaftliche Beauftragung der Präsenzkraft ist Voraussetzung für Wohngruppenzuschlag

Mit Urteil vom 11.10.2018 (Aktenzeichen L 30 P 71/16) hat das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg erneut entschieden, dass unabdingbare Voraussetzung für den Wohngruppenzuschlag die gemeinschaftlichen Beauftragung einer Präsenzkraft und Festlegung ihres konkreten Aufgabenkreises zur Erfüllung des Zwecks der gemeinschaftlich organisierten pflegerischen Versorgung (§ 38a Abs. 1 Nr. 3 SGB XI) ist. 

Eine derartige Beauftragung müsse schon nach dem Wortlaut des Gesetzes gemeinschaftlich durch alle Bewohner bzw. deren rechtliche Betreuer im Sinne einer sogenannten Arbeitgebergemeinschaft erfolgen, unabhängig von der individuellen pflegerischen Versorgung.  Erforderlich sei ein gemeinschaftlicher, ihren individuellen Bedürfnissen entsprechender Willensprozess der Gruppe, mit dem Ergebnis der Bestimmung einer Präsenzkraft und deren Aufgabenkreis. Mit dem Wohngruppenzuschlag sollen jene Aufwendungen zweckgebunden abgegolten werden, die der Wohngruppe durch die gemeinschaftliche Beauftragung der Präsenzkraft entstehen. Damit soll dem besonderen Aufwand Rechnung getragen werden, die Folge der neu organisierten pflegerischen Versorgung der Wohnform ist.

Im entschiedenen Fall war der Pflegedienst mit den Leistungen der Präsenzkraft beauftragt worden. Zwar könne unter Umständen auch ein Pflegedienst Präsenzkraft im Sinne des Gesetzes sein (unter bestimmten Voraussetzungen sei dies möglich, s. BSG, Urteil vom 18. Februar 2016, B 3 P 5/14 R, Rn. 29), es werde aber nicht deutlich, welche konkreten, sich deutlich von der benötigten individuellen pflegerischen Versorgung unterscheidenden Aufgaben der Pflegedienst übernimmt. Die Festlegung des konkreten Aufgabenkreises sei aber zwingend erforderlich. Darüber hinaus fehle es aber auch an dem Nachweis der gemeinschaftlichen Willensbildung der Wohngemeinschaft, obgleich sich dieses gesetzlich vorgegebene Erfordernis auch im beigebrachten Konzept der Wohngruppe wiederfindet. Darin ist niedergelegt, dass die Mitglieder der Wohn-Pflege-Gemeinschaft gemeinschaftlich für organisatorische, verwaltende, betreuende oder das Gemeinschaftsleben fördernde Tätigkeiten oder hauswirtschaftliche Unterstützung eine Alltagsbegleiterin beauftragen und deren Aufgaben festlegen. Das sei bisher nicht erfolgt.
Soweit im Laufe des Klageverfahrens das Protokolle von Wohngruppenversammlungen beigebracht wurden, wonach bestimmte Angestellte des Pflegedienstes gewählt (bzw. im Sinne des Gesetzes „beauftragt“) wurden, sei festzustellen, dass nicht sämtliche Mitglieder der Wohngemeinschaft bzw. ihre Vertreter anwesend waren und entsprechende Unterschriften auch nicht nachweislich unmittelbar nachgeholt wurden. Es fehle insoweit an einer gemeinschaftlichen Willensbildung in Bezug auf die benannte Person sowie deren konkrete Aufgaben. 

Anmerkung für die Praxis:
Das Landessozialgericht setzt für die gesetzlichen Anforderungen an die gemeinschaftliche Beauftragung der Präsenzkraft sowie die gemeinschaftlich organisierte pflegerische Versorgung einen strengen Maßstab an. Empfehlenswert ist in jedem Fall die Bildung von Auftraggebergemeinschaften und die jeweils protokollierte gemeinschaftliche Beauftragung der Präsenzkraft mit konkret beschriebenem Aufgabenkreis durch alle Wohngruppenmitglieder. Diese gemeinschaftliche Beauftragung ist bei jedem Wechsel in der Zusammensetzung der Wohngruppe zu erneuern.
(RA Dr. Groß, Februar 2019)

MDK-Prüfungen werden ausgesetzt

Die regelmäßige MDK-Qualitätsprüfung wird zunächst bis Ende Mai 2020 ausgesetzt.

Die Kontrollen binden Pflegekräfte, was nun durch die Aussetzung verhindert wird. Außerdem können dadurch die beim MDK angestellten Ärzte und Pflegefachkräfte für die Versorgung der Corona-Infizierten eingesetzt werden.

Ausgesetzt sind allerdings nur die Regelprüfungen. Anlassprüfungen können weiterhin durchgeführt werden.

Krankenkassen müssen schnell über Leistungsanträge entscheiden

Krankenkassen müssen innerhalb von drei Wochen über den Antrag eines Versicherten auf Kostenübernahme für eine Behandlung entscheiden. Wenn noch das Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen (MDK) eingeholt werden muss, ist die Entscheidung innerhalb von fünf Wochen zu treffen.
Dies entschied das Bundessozialgericht in zwei Fällen am 24.04. und 06.11.2018.

Werden diese Fristen nicht eingehalten, gilt der Antrag auf Kostenübernahme als genehmigt. Die Krankenkasse muss in diesem Fall die Kosten der Behandlung übernehmen. Dies regelt § 13 Abs. 3a Satz 6 SGB V.

Im ersten Fall beantragte eine Versicherte nach einer massiven Gewichtsabnahme die Kostenübernahme von Hautstraffungsoperationen. Die Krankenkasse lehnte dies aber nach Einholung eines MDK-Gutachtens ab. Die Begründung der Kasse: Es liege keine behandlungsbedürftige Erkrankung vor. Sie erklärte dies gegenüber der Versicherten aber erst nach Ablauf von fünf Wochen, weil die MDK-Begutachtung selbst auch erst nach Fristablauf erfolgte.
Die Krankenkasse begründete ihre Absage außerdem mit dem Argument, dass die beantragte Operation nicht zum Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherungen gehöre.
Dieses Argument ließ das Bundessozialgericht jedoch nicht gelten:
Es genüge, wenn ein hinreichend bestimmter Antrag gestellt werde, über den nicht rechtzeitig entschieden werde. Ebenso sei der Krankenkasse anzulasten, dass die Versicherte über die Fristüberschreitung nicht rechtzeitig informiert wurde.

Auch im zweiten Fall holte die Krankenkasse ein MDK-Gutachten ein, um über den Kostenübernahmeantrag eines an Krebs erkrankten Versicherten zu entscheiden.
Die Kasse lehnte daraufhin den Antrag auf Zahlung einer Immuntherapie später als drei Wochen nach Antragstellung ab. Sie versäumte jedoch, den Versicherten über das benötigte MDK-Gutachten zu informieren.
Auch hier ließ das Gericht das Argument, die Immuntherapie würde nicht der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenkasse unterliegen, nicht gelten. Denn trotz der Einholung eines MDK-Gutachtens habe hier die kürzere Drei-Wochen-Frist gegolten, weil der Versicherte über die Einholung des Gutachtens nicht rechtzeitig informiert wurde.

In beiden Fällen ist die Krankenkasse zur Übernahme der Kosten für die beantragten Behandlungen verurteilt worden.

Bundessozialgericht, Urteile vom 06.11.2018, B 1 KR 13/17 R und B 1 KR 30/18 R

Kammergericht bestätigt Verurteilung des Bezirksamts Mitte zur Zahlung an Pflegedienst

Das Kammergericht hat erneut ein Urteil des Landgerichts Berlin bestätigt, mit dem das Bezirksamt Mitte von Berlin zur Zahlung von Vergütung an einen ambulanten Pflegedienst verurteilt wurde.

Das Bezirksamt Mitte verweigert regelmäßig nachträglich die Bezahlung von ihm selbst bewilligter und vom Pflegedienst auf dieser Grundlage erbrachter Leistungen der Hilfe zur Pflege mit der Begründung, der Pflegevertrag zwischen Pflegedienst und Hilfeempfänger sei unwirksam. Selbst der Bewilligungsbescheid sei keine Rechtsgrundlage für die Bezahlung der erbrachten Leistungen. Das Kammergericht hat dieser rechtswidrigen Auffassung und Verwaltungspraxis nunmehr einen Riegel vorgeschoben und die Verurteilung des Bezirksamts Mitte bestätigt.

Zur Klarstellung: Zwischen Pflegedienst und Hilfeempfänger bestand ein schriftlicher Pflegevertrag, das Bezirksamt Mitte war jedoch der Meinung dieser entspreche nicht den Formvorschriften nach dem Rahmenvertrag. Das Kammergericht bestätigte die Rechtsprechung des Landgerichts Berlin, nach dem der Pflegevertrag keinem Schriftformerfordernis unterliegt und sich ein solches weder aus § 120 SGB XI noch aus § 6 des Rahmenvertrages nach § 75 SGB XI ergibt. Aus der gesetzlichen Vorschrift des § 120 SGB XI ergibt sich, dass unabhängig von den vertraglichen Absprachen im Einzelfall ein Pflegevertrag spätestens mit Beginn des ersten Pflegeeinsatzes zustande kommt. Ein Pflegevertrag kann damit konkludent in Form eines zivilrechtlichen Dienstvertrages nach § 611 BGB geschlossen werden. Das an den Pflegedienst gerichtete Gebot, sodann eine schriftliche Ausfertigung des Pflegevertrages dem Pflegebedürftigen und der Pflegekasse auszuhändigen, setzt das vorherige Zustandekommen des Pflegevertrages voraus und dient aus Gründen der Transparenz der Dokumentation der Vereinbarung. Dieses Schriftformerfordernis ist jedoch nicht konstitutiv, so dass ein Pflegevertrag gleichwohl wirksam ist. Die nach dem Pflegevertrag zu erbringenden Leistungen waren nach Inhalt, Art und Umfang auch hinreichend bestimmt. Inhalt, Art und Umfang ergeben sich bereits aus dem Modulbogen gemäß dem Bewilligungsbescheid des Bezirksamtes. Dieser Modulbogen wurde vom Pflegedienst und vom Hilfeempfänger unterzeichnet und damit rechtswirksam vereinbart.

Des Weiteren ist der Kostenübernahmebescheid in zivilrechtlicher Hinsicht als Schuldbeitritt zu bewerten, so dass dieser für den Pflegedienst die Grundlage darstellt, direkt gegen das Bezirksamt als Kostenschuldner vorzugehen. Auch dies hatte das Bezirksamt bestritten, aber auch insoweit wurde es durch das Urteil des Landgerichts durch das Kammergericht bestätigt.

KG, Beschluss vom 25.02.2021 – 12 U 219/19